Wie lässt sich Familienstreit an Weihnachten begegnen und verhindern?

Wenn wir uns an Weihnachten mit der Familie zusammenfinden, dann hat jedes Familienmitglied seine Lebensgeschichte mit im Gepäck. Wir kommen nicht nur als die erwachsenen Menschen zusammen, die wir heute sind, sondern auch als Kind unserer Eltern, als Bruder oder Schwester und mit all den gekränkten, verletzten, ungeheilten Anteilen in uns. All das, was wir noch nicht ausgesprochen und innerlich geklärt haben, was unter der Oberfläche und in unserem Unterbewusstsein brodelt, bietet jedes Jahr erneut den Zündstoff für Zoff unter dem Tannenbaum.

Auch noch im Erwachsenenalter neigen wir dazu, in unserem Leben die Rollen einzunehmen, die uns in unserer Kindheit und Jugend durch die damaligen Umstände zugewiesen wurden. Solange, bis wir uns ihrer bewusst werden, verletzte Anteile in uns heilen und sie ablegen. Psychologisch betrachtet fühlen wir uns in alten Verhaltens- und Gefühlsmustern einerseits heimisch und sicher, weil wir sie so gut kennen und dafür bestätigt wurden. Anderseits strebt ein gesunder Teil in uns danach, sich von limitierenden Rollen zu befreien. Das kann zum Beispiel in konstruktiver Form geschehen, indem wir Probleme sachlich ansprechen, versuchen kooperative Lösungen zu finden, Empathie und Akzeptanz für die Sicht des anderen zeigen, uns versöhnen oder uns bewusst distanzieren.

Meist verlaufen unsere Abgrenzungsversuche jedoch mehr oder minder in so genannter reaktiver Form. Das heißt durch schmollen, zicken, nachtragen, ängstlich sein, konfliktscheu sein, jammern, funktionieren, sich unnahbar machen, besser wissen und belehren, ungehalten reagieren, schreien oder gekränkt schweigen. (Mehr zu den menschlichen Abwehrprogrammen unter Verhaltens- und Gefühlsmuster.

Als Beispiel: Natalie (Name geändert) kam kürzlich zur dritten Sitzung in meine Praxis und berichtete, sie überlege, dieses Jahr nicht mit ihrer Familie Weihnachten zu feiern. Bei dem Gedanken an das kommende Weihnachtsfest schnüre es ihr die Kehle zu. Nun hatte sie in den voran gegangenen Sitzungen bereits einige innere Baustellen angeschaut und bearbeitet.
In diesem Prozess besteht bei Klienten nicht selten der Impuls, erst einmal keinen Kontakt mehr zu den Menschen zu haben, die kränkend und verletzend waren.

In der Hypnose bitte ich Natalie, sich dem Gefühl der zugeschnürten Kehle und dem Gedanken an das kommende Familienfest zu nähern und alle Emotionen zuzulassen, die dabei aufkommen. Vor ihrem inneren Auge zeigt sich kurz darauf eine Situation aus ihrer Vergangenheit: Sie ist acht Jahre alt und steht mit ihrer Mutter in der Küche, um ein Familienessen vorzubereiten. Tränen steigen auf, als sie von dem Gefühl der erdrückenden Verantwortung berichtet, der Mutter, die oft traurig und allein wirkt, helfen und sie unterstützen zu müssen. Sie sieht verschiedene Situationen ihrer Kindheit, die in Verbindung mit dem Gefühl stehen, die Familie zusammenhalten zu müssen. Auch spürt sie eine große Verantwortung für ihre kleine Schwester.

Sie nimmt daraufhin ihre Schwester wahr, die unbedarft spielt. Natalie spürt jetzt lang verdrängten Neid und Wut auf die kleine Schwester, die sich oft selbst die Nächste ist und in ihrem Wesen so unbeschwert scheint. Diese Lebenserfahrungen sind tief in ihrem Unterbewusstsein verankert und wirken noch heute in Natalies Fühlen und Handeln.

Wir schauen, was Natalie sich eigentlich gewünscht und gebraucht hätte. Nachdem sie realisiert, dass ihr die Anerkennung und Wertschätzung dafür fehlte, in die Rolle der Unterstützerin der Mutter, der Ersatzmutter für die kleine Schwester und Familienerhalterin geschlüpft zu sein, kommt in ihr die Erkenntnis auf: „Ich bin nicht allein verantwortlich. Und kein Kind kann diese hohe Verantwortung tragen. Ein Kind sollte Kind sein dürfen.“
Ohne weiteren Impuls von außen, nimmt sie jetzt die Perspektive der Mutter wahr, die sich überfordert und vom abwesenden Vater allein gelassen fühlt. Sie erkennt zudem, dass sich die Schwester durch ihre Selbstbezogenheit gegen eine nicht kindgerechte Überverantwortung wehrt, also unbewusst gegen die Rollen rebelliert, die Natalie aus Pflichtgefühl eingenommen hat. Natalie betrauert die damaligen Umstände. Danach kehrt innere Ruhe in ihr ein, Verständnis für die frühere Situation und die von ihr eingenommenen Rollen. Sie verinnerlicht, dass sie heute bewusst selbst (selbstbewusst) entscheiden kann, in welcher Form und in welchem Maß sie Verantwortung und Verpflichtungen übernehmen möchte.

Natalies Beispiel ist klassisch dafür, dass Kinder unausgesprochen und häufig auf ganz subtiler Ebene erspüren, was in der Familie dysfunktional läuft und in die Rollen im Familiensystem schlüpfen, die nicht angemessen von erwachsenen Bezugspersonen ausgefüllt werden. Oder eben auf vielfältige Weise gegen destruktive Familienstrukturen rebellieren. Immer geht es dabei um Selbstschutz, also tiefergehend um die Wahrung der eigenen Existenz.

Ob Natalie sich bereits entschieden hat, mit ihrer Familie Weihnachten zu feiern, ist noch unklar. Familiäre Themen sind vielschichtig und komplex. Klar ist aber, durch die innere Aufräumarbeit, die sie bei sich selbst geleistet hat, ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass sie noch einmal im gleichen Ausmaß in frühere übertriebene Gefühle von Verantwortlichkeit, Helfersyndrom, Neid und Ärger gerät. Denn durch die Verarbeitung dieser Emotionen, ist es ihr möglich, anders zu handeln und neue, korrigierende Erfahrungen zu machen.

Mit der eigenen Innenschauen können wir erkennen: Was fühle ich eigentlich wirklich (Angst, Schuld, Scham, Trauer, Wut) und was sind die tieferliegenden Ursachen für diese Emotionen? Diese sind mit dem Verstand allein nicht zu klären.
Wir erlernen die Unterscheidungsfähigkeit, ob unsere negativen Gefühle in ihrem Ausmaß angemessen sind oder ob sie noch mit früheren Erfahrungen von „Ich muss mich anpassen.“, „Ich bin nicht gut genug“, „Ich bin nicht wichtig“ usw. verknüpft sind, die ihre Gültigkeit mit der heutigen Selbstverantwortung als Erwachsener verloren haben.

Die eigene Aufarbeitung belastender Gefühle ebnet den Weg für eine sinnvolle Kommunikation, in der wir uns nicht aufgrund von seelischen Wunden rechtfertigen und verteidigen, in Kämpfe gehen oder zurückziehen. Sie schafft mehr Empathie und Verständnis für uns selbst und gegenüber der anderen Person: Warum handelt sie so? Warum denkt sie so? Was wir hören oder beim anderen wahrnehmen, ist meist verzerrt von unseren eigenen negativen Erfahrungen, die wir noch nicht verarbeitet haben. Ist dies geschehen, können wir nachsichtiger sein. Der andere hat seine Gründe, die faktisch nichts mit uns als Person zu tun haben. Die Wahl der Worte, Mittel und das Verhalten des anderen müssen wir deshalb trotzdem nicht gut finden, entschuldigen oder bejahen. Aber wir können darauf mit mehr Feingefühl und (selbst)bewusst, anstatt reaktiv reagieren. Eventuell auch unsere Ansprüche und Forderungen überprüfen.
Und vielleicht ist dieses Weihnachten ja ein Startpunkt, dir zu erlauben, die eigenen hinderlichen Gefühle zu spüren, zu hinterfragen und im neuen Jahr ihre Wurzeln zu entfernen.